Stillstand
Ein persönliches Empfinden oder äußerer Zustand? Plötzlich ist alles anders. Alles verändert sich und man selbst hat das Gefühl, still zu stehen, ausgebremst zu sein, nicht mithalten zu können.
Der Grund für dieses Gefühl kann ganz unterschiedlich sein: man fühlt sich wie gelähmt von einer plötzlichen Veränderung, z. B. durch den Tod eines geliebten Menschen oder wird mitten im Leben ausgebremst, wie tausende ehemalige DDR-Bürger, deren Abschlüsse nach der Wende nicht mehr anerkannt, deren Fabriken von einem auf den anderen Tag geschlossen und deren Existenzen schlichtweg entzogen wurden.
Stillstand kann aber auch Auslöser für eine positive Veränderung sein. Wie zur politischen Wende 1989 als tausende Menschen für den Wandel des verkrusteten, starren und unbeweglichen Staatssystems der DDR demonstrierten.
WENDEpunkte - Stillstand
Ich bin 43 Jahre alt, in Bautzen, Sachsen geboren und überzeugte Europäerin und Weltbürgerin. Fragt man mich aber nach meiner Herkunft und Identität antworte ich heute: ich bin Ostdeutsche. Denn ich spüre, es macht einen Unterschied. Stillstand – verbinde ich mit verschiedenen Punkten in meiner Biografie, die ich mit einigen Zitaten aus dem lesenswerten Buch “Zonenkinder” von Jana Hensel untermauern möchte.
„Wir sind weder in der DDR noch in der Bundesrepublik erwachsen geworden. Wir sind Kinder der Zone, in der alles neu aufgebaut werden musste, kein Stein auf dem anderen blieb
Veränderungen sind in unserem bisherigen Leben stets Abschiede, immer Brüche und nie Übergänge gewesen“
(J.Hensel 2003, S. 159 Zonenkinder)
STILLSTAND 1 - Generation Wendekind
Damals 1989 waren wir zwischen 12 und 15 Jahre alt. Von heute auf Morgen verschwindet das Land unserer Kindheit. Wir können nur still zuschauen, wie rasant sich alles ändert. Dabei hatten selbst unsere Eltern keine Ahnung, wie sie in der neuen Welt zurecht kommen.
„Bei uns im Osten blieb bekanntlich kein Stein auf dem anderen; nicht was gestern noch war, galt auch am nächsten Tag noch; niemanden war mehr wirklich zu trauen; alles löste sich auf und baute sich ab und definierte sich um und wollte unbedingt neu sein“
(J. Hensel 2019, Alles bleibt anders)
Die gleichen Menschen, der gleiche Ort und doch ist alles anders – rasant still. Supermärkte werden über Nacht mit einem komplett neuen Sortiment ausgestattet, innerhalb weniger Tage verschwinden Namen, Vertrautes, und auch immer mehr Menschen.
„..die Kaufhalle hieß jetzt Supermarkt, Jugendherbergen wurden zu Schullandheimen, Nickis zu T- Shirts.(…) Dinge hießen einfach nicht mehr danach, was sie waren: Vielleicht waren sie auch nicht mehr dieselben (…) Wenn mir heute Freunde aus Heidelberg oder Krefeld sagen, sie hätten lange gebraucht sich daran zu gewöhnen, dass Raider nicht mehr Raider, sondern irgendwann Twix hieß, und wie sie es liebten in den Ferien für ein paar Tage nach Hause zu fahren, weil man es da zwar nicht lange aushalte, aber alles noch so schön wie früher an seinem Platz sein, dann beneide ich sie ein bisschen. Ich stelle mir in solchen Momenten heimlich vor, noch einmal durch die Straßen unserer Kindheit gehen zu können.”
(J.Hensel 2003, S. 21-24 Zonenkinder)
Es war eine seltsame Zeit, die Nachwendezeit. Einerseits konnte man alles machen, andererseits fehlte Struktur, Halt und Wissen, um diese neue freie Welt.
Für mich war diese Zeit ein großes Lern- & Probierfeld. Ich wollte Tanzen, also gründete ich einen Tanzverein und reiste an jedem Wochenende durch die gesamte Republik, um an Workshops teilzunehmen und zu lernen. Denn es gab ja noch nichts. Die Abwicklung des Ballets am Theater Bautzen, war mein Glück…denn so konnten wir die Musiktheatervorführungen tanzen. Dann bin ich raus in die Welt. Die USA war mein Traum und viele andere Länder folgten. Aber vieles blieb mir verschlossen, einfach weil wir uns es nicht leisten konnten und weil wir nicht wussten, wie man es macht.
“Den eigenen Weg zu finden und zu gehen mussten wir uns selbst erarbeiten, oft bestimmt durch die Existenzängste der Eltern oder das Leben ihrer verlorenen Träume: „Und so sehen wir für uns keine andere Möglichkeit als erfolgreich zu sein (…) wenn wir uns in den nächsten 10 Jahren gut schlagen und einen anständigen Job bekommen, dann erhalten unsere Eltern im Nachhinein Recht und dürfen glauben im Westen und in der DDR nicht alles falsch gemacht zu haben.“
(J.Hensel 2003, S. 80-81 Zonenkinder)
Stillstand 2 - Gestohlene Träume -
Wirtschaftlicher Zusammenbruch in der Nachwendezeit
– Zwei Jahre nach der Wiedervereinigung lag die Industrieproduktion in Ostdeutschland 73 Prozent unterhalb ihres Niveaus von 1989 (Windolf 2001, S. 396).
– Dabei brach die Beschäftigung in unterschiedlichen Branchen relativ unabhängig von einer gelungenen oder fehlgeschlagenen Privatisierung erheblich ein.
– im Zeitraum von 1990 bis 1995 haben ca. 80 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung der DDR ihren Arbeitsplatz vorübergehend oder auf Dauer verloren. (Windolf 2001, S. 411)
Stillstand war es damals vor allem für meine Eltern, aber sie haben es geschafft, sind immer wieder auf die Beine gekommen und gehören nicht zu den Wendeverlierern, nicht zu den „vielen ostdeutschen Unternehmerträumen die jäh an der Realität der Nachwendezeit zerplatzten. Die ostdeutsche Wirtschaft brach in den frühen neunziger Jahren so stark ein, wie die keines anderen osteuropäischen Landes. Nur in Bosnien und Herzegowina findet man ähnliche Zahlen, allerdings nach dem Jugoslawienkrieg“
(J.Hensel 2019 S.96 Wenn alles anders bleibt)
Stillstand 3 - Abwanderung & neue Chancen
Nach unserem Abitur 1996 sind fast alle meiner Schulfreunde in die alten Bundesländer gegangen, die meisten sind bis heute dort geblieben. Es gab oft keine Alternative.
Ich bin geblieben – Stillstand? Ja, manchmal hatte ich das Gefühl „übrig“ geblieben zu sein. Dennoch war es eine bewusste Entscheidung, ich wollte schon immer etwas bewegen, mitgestalten und das habe ich getan. Zuerst habe ich ein Tanzstudio mit über 400 Schülern an 4 Standorten aufgebaut, dem folgte ein Tanzzentrum mit professionellen Produktionen, internationalen Gastspielen, innovativen Projekten.Ich habe meinen Platz in der sächsischen Tanzszene gefunden, bin deutschlandweit und international vernetzt.
Es gibt Möglichkeiten seine eigene Nische zu finden, neue Strukturen aufzubauen und vor allem etwas für die Menschen vor Ort, die Region und die Strahlkraft nach Außen zu tun. Dennoch schleicht sich immer wieder ein Unbehagen ein. Ich war und bin viel unterwegs in Deutschland, im Ausland, ich kenne den Blick über den Tellerrand und ich kenne den Blick auf den Osten.
Es ist der Blick von Außen, der mir das Gefühl von Stillstand gibt. Manchmal sind es Sätze die Anerkennung ausdrücken und gleichzeitig herabschauen:
„Also ich könnte nicht im Osten leben, es ist so gut und wichtig, dass Du dort noch bist und diese Arbeit machst, sonst wird es ja noch schlimmer“ oder Fragen wie „Du bist immer noch hier?“ – Manchmal sind es auch Vorurteile, das gesellschaftlich akzeptierte “Ost-bashing”.
„Wahrscheinlich haben sich aber Sätze, die Beschreibungen von Wegzug und Niedergang, für alle die die geblieben sind, oft bitter angehört (…)viel andere im Osten müssen sich jahrzehntelang wie Sitzenbleiber gefühlt haben, wie Verlassene, wie Zurückgebliebene. Dabei sind zwar Abertausende gegangen, aber es sind auch viele geblieben. Wäre es nun nicht mal an der Zeit denen, die geblieben sind Tribut zu zollen?“ (J. Hensel 2019 S.79 Wenn alles anders bleibt)
Ja, es ist an der Zeit! Und es ist an der Zeit einen neuen Blick auf den Osten zu werfen. Aber es ist auch an der Zeit, selbst den Blick zu ändern und mit Selbstbewusstsein und Selbstverständlichkeit zur eigenen Herkunft und Leistung zu stehen.
Ja, es ist an der Zeit! Und es ist an der Zeit einen neuen Blick auf den Osten zu werfen. Aber es ist auch an der Zeit, selbst den Blick zu ändern und mit Selbstbewusstsein und Selbstverständlichkeit zur eigenen Herkunft und Leistung zu stehen.
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